Es gibt Menschen, die können und wollen ihre erste große Liebe nicht vergessen. Auch wenn Jahrzehnte vergehen – plötzlich spinnen die Hormone…
Zeitreise
Leise schleicht sie zur alten zerschlissenen Reisetasche. Ihre staubigen, verdreckten Sportschuhe trägt sie in der Hand. Jetzt, sofort und auf der Stelle will sie es tun. Beim Bücken kneift ihre Jeans, die aus den Siebzigern. Sie hatte die Hose mit der Blümchenbluse im Prilblumen-Look all die Jahre in einem Schrank im Keller aufbewahrt. Die Kleidungsstücke duften herrlich nach den Mottenkugeln von Oma Almut. Sie bekommt einen kleinen Gefühlsausbruch. Tränen kullern in ihren Ausschnitt. Ihre Brüste hängen inzwischen etwas schlaff herunter, aber ein BH kommt für sie jetzt nicht in Frage, wie damals nicht. Die ehemalige Flowerpower-Botschafterin hat sich sofort wieder unter Kontrolle, denn einen Seufzer kann sie sich nicht erlauben. Jetzt, sofort und auf der Stelle will sie es ja tun. Sentimentalitäten und lautes Herzschmerzgedöns würden alles zu Nichte machen. All die Jahre hat sie nur für diesen einen Tag gelebt. Und viele Kompromisse musste sie eingehen, viele negative Situationen aussitzen bzw. bestehen. Völlig aufgeregt greift die studierte Biologin in die Tasche und wühlt nach einer kleinen Holzschachtel. Sie öffnet sie und tatsächlich ist er noch da. Sie schließt die Schachtel wieder, legt sie zurück in die Reisetasche. Zweifel kommen für einen kleinen Moment auf. Wenn sie es heute nicht machen würde, wann dann? Wenn überhaupt, dann nur heute… Ob der Joint noch schmeckt? Egal! Sie hat nur noch das eine Ziel vor Augen.
Ihre grauen Haare ließ sie gestern extra färben. Knallrot, wie einst das Gummiboot. Wieder laufen Tränen über das Gesicht. Sie muss sich beeilen. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, um mit ihrem uralten Bonanza-Fahrrad auf Tour zu gehen. Es steht noch abgedeckt hinter den Mülltonnen. Mit der Reisetasche wird es ein echter Balance-Akt auf dem Rad ohne Gepäckträger. Tanja kratzt sich am Kopf, da sie auf die Farbe allergisch reagiert und kleine Pusteln zieren nun ihre Kopfhaut. Erinnert sie spontan an die Zeiten, als sie Läuse hatte und an den Urlaub mit Rudi, der sie immer Blümchen nannte. Die dreifache Großmutter versteckt ihre roten Haare unter einem bunten Tuch, bis sie das Fahrrad, die Schuhe und die Reisetasche in ihrem Auto verstaut hat. Ihr Lieblingstuch aus den Siebzigern. Fürs Bügeln blieb keine Zeit, aber Knitter ist in wie ihre Falten. Jetzt, sofort und auf der Stelle will sie es tun. Gleich ist es endlich soweit und ihre Reise in die Siebziger beginnt. Sie muss jetzt noch 250 km mit dem VW-Bus zurücklegen, den sie bei Ebay ersteigerte. Danach will sie mit dem Fahrrad noch ca. zwanzig Minuten durch den Wald fahren, wie anno dazumal. Erst dann ist sie am Ort des Geschehens. Dieses Mal hätte Tanja beinahe einen kleinen Seufzer ausgestoßen. Alles wird gut.
Hoffentlich hält das Wetter. Erst wollte sie noch im Internet auf die Schnelle nachsehen, wie das Wetter wird, aber da hätte sie ihren Lebensabschnittsgefährten geweckt, der im Arbeitszimmer liegt. Sie ist froh, dass er schläft. Die Tränen sind fast nicht zu bändigen, aber es macht keinen Sinn. Es ist ihr Tag, der alles verändern wird. Ein kleiner See inmitten einer idyllischen Landschaft wartet auf die Biologin. Durch Zufall hat sie ihn gefunden. Den See einstmals und ihre große Liebe im Internet. Jahrzehntelang war er wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt, noch nicht sofort, aber bald, heute noch, dann wird sie ihn an jener Stelle am See wiedersehen. Damals versprach er ihr, dass sie, wenn sie sich das nächste Mal sehen, mit ihren Bonanza-Fahrrädern abhauen und eine Weltreise machen…
© Corina Wagner, Juni 2012