Härtefall
Jedes Jahr aufs Neue ist es ein Versuch wert – seine Umwelt mit Ungeheuerlichkeiten zu konfrontieren. Entweder hängt urplötzlich ein schwarzes Ekelteil über Rudis Gäste-Klo, weil es tierisch schön ist, wenn sich in der Früh eine lebensechte Plastik-Kreuzspinne von der Decke abseilt oder der Liebhaber von einer Übernachtung im Leichenwagen vorschwärmt und zum nächsten Date auf einen alten Friedhof einlädt. Uroma Henriette steckt angeblich leicht benommen mit dem Rollator in der Krypta fest und Ehemann Gutfried betet mit dem Handy um Gottes Hilfe, wählt dabei unabsichtlich die Nummer seiner Holden an, die gerade im Bett seines besten Freunds liegt und über eine unerwartete Schwangerschaft philosophiert. Freund Paul steht auf dem Standstreifen der Autobahn in Richtung Osten, weil er mit Väterchen Frost die Welt retten wollte und nun auf dem Abschleppdienst Beulenwunder wartet. Ursula, Rudis Zwillingsschwester, erfährt vermutlich gerade von ihrer besten Freundin Edeltraud, dass sie seit zwei Jahren im Untergrund für bekennende Tunnelblickträger arbeitet und heute Abend die begehrte Medaille der Tiefstaplerin erhält. Knut, der Neffe von Wilma schickte doch tatsächlich ein Kondolenzbuch an seine Schwester Trude – mit der Bitte, dass sich alle Schweine der Familie dort eintragen sollen, wenn er heute Nachmittag höchstwahrscheinlich an der klassischen Puddelvergiftung stirbt. Renate, immer noch Knuts Ehefrau, öffnete vor ca. zwei Stunden ein Telegramm von ihrem Patenonkel Bert aus Buxtehude. Er hätte heute Vormittag eine Million Euro von einer älteren Dame geerbt, die er bei Lebzeiten beglückte. Nun habe er ganz spontan beschlossen, dass das gesamte Vermögen einer Rattenaufzucht-Station zu Gute kommt. Frau Holle hatte laut Radiodurchsage zwischen Mars und Jupiter einen Arbeitsunfall und alle Märchenerzähler/innen sollen bitte bis Morgen alle Fenster und Türen geschlossen halten, auch die passende Klappe. Was für ein Härtefall?
©Corina Wagner, 1. April 2012