Ein Kind ist geboren und eine neue Welt ist damit möglich geworden. Sie erscheint zunächst in seltsamer und einzigartiger Weise deformiert, übernah und mit dementsprechend verschobener, ja verquollener Perspektive. Allmählich baut aber das kleine Geschöpf in sie hinaus, wobei es zunächst nie wagen wird, über die Grenzen dieser selbstgeschaffenen Anschaulichkeit zu gehen und seine eigenen krausen, aber sehr dichten Vorstellungen, die es etwa irgend einem aufgeschnappten Worte unterschiebt, gegen einen Begriff einzutauschen, über dessen feststehende Bedeutung die Erwachsenen übereingekommen sind.
Wäre dieses Kind nun in die Lage versetzt, gemachsam an seiner Weltschöpfung weiterzuschaffen, und den chaotischen Okeanos, der die Grenzen der bekannten Welt umspült, immer weiter hinauszudrängen – nie aber so weit, daß nicht jeder Punkt des bereits eroberten Gebietes in beziehungsreichster Weise besessen und einverleibt wäre, und dies kraft eben jener seltsamen Tugend, die es noch zurückhält, Unanschauliches auf dem kurzen Wege zum zweifelhaften Eigentum, zum Eigentum dem Namen, nicht dem Wesen nach, zu machen – wäre und verbliebe unser Kind in dieser seinen idealen Lage: so würde es sich eine Welt schaffen, deren Grenzen genau denen seiner Befähigung entsprächen.
Bei den meisten Kindern entstünde auf solche Weise das Weltbild eines Idioten. Gleichwohl, es wäre immer noch ein Weltbild von seltener Reinheit, in der wir jede schwindelhalfte oder seichthin angeflogene Beziehung nach außen angenehm vermissen würden. Auch wäre die durchaus schöpferische und bis ins letzte organisch gewordene und gewachsene Entstehung dieser Welt nicht zu verkennen.
Indessen läßt man den Kindern keineswegs Zeit zum autochthonen Ausbau ihres Gesichtskreises. Denn man nimmt mit gutem Grunde an, daß dieser Ausbau wohl nicht so bald, ja wahrscheinlich niemals, bis zu einer wirklichen Eroberung und zu einem giltigen, lebensgerechten Bilde vorschreiten könnte, einem Bilde, das seinen Schöpfer am Ende allerdings ebenso fähig zum Fortkommen machen würde, wie es jene sehr bald sind, die in Kürze ein fertiges orientierendes Schema übernahmen. Man läßt also den Kindern lieber nicht Zeit, da weder Eltern noch Erzieher so verschroben sind, zwanzigjährige Idioten züchten zu wollen, sondern man dringt noch lange vor der Schule mit bewährten Fertigformen der Sprache, Anschauungsweise und aller anderen Gebiete an den kleinen Gott heran, alteriert und irritiert seinen Schöpfungsprozeß, dessen sehr zweifelhaften Wert fürs Leben die Erwachsenen kennen. Und allmählich wird so Bresche auf Bresche gelegt, der Okeanos des annoch Beziehungslosen dringt mit vielen Namen herein – und siehe da! man lernt bald mit ihnen umzugehen, und es erwachen spezifische Fähigkeiten zu ihrer richtigen und geschickten Kombination, es erwachen die Talente. Die erste kluge Äußerung, von Vater und Mutter freudig belacht und stolz weitergegeben, sie zeigt an, daß unser Kind seine Eltern angenommen hat und zu ihren Gunsten nunmehr auf die eigene Weltschöpfung verzichtet.
Heimito von Doderer (1896 bis 1966), österreichischer Romancier und Schriftsteller.